Ein Interview mit dem Vegetationsökologen Hans Jürgen    Böhmer

Hans Jürgen Böhmer
Hans Jürgen Böhmer
Image: Hans Jürgen Böhmer

Der Vegetationsökologe Hans Jürgen Böhmer forscht und lehrt an der University of the South Pacific. Seit März 2020 ist er Gastwissenschaftler am Institut für Geografie in Jena und hat in dieser Zeit gemeinsam mit Prof. Mirka Dickel ein Buch zum Thema "Die Verantwortung der Geographie. Orientierung für eine reflexive Forschung" veröffentlicht.

Herr Böhmer, die Stationen Ihres bisherigen Werdegangs sind sehr abwechslungsreich. Nachdem Sie zu Ihrer Dissertation noch in Europa geforscht haben, hat es Sie schnell über die Grenzen des Kontinents hinausgezogen. Können Sie kurz zusammenfassen, mit welchem Thema Sie sich während Ihres Forschungsaufenthalts in Jena beschäftigen? An welchem Institut arbeiten Sie?

Ich fange beim Institut an: das ist das Institut für Geografie, wirklich ein sehr, sehr freundlicher Ort. Durch die Pandemie bin ich aus familiären Gründen auch öfter einmal gezwungen gewesen, nicht da zu sein. Das lag aber nicht am Institut, denn ich fühle mich da sehr wohl und bin von der geschäftsführenden Direktorin Frau Professor Dickel sehr freundlich aufgenommen worden. Wie ich nach Jena gekommen bin, hat natürlich mit meiner Arbeit zu tun. Ich war von 2015 bis 2017 Direktor des Geografischen Institutes an der University of the South Pacific und der Kontakt ist dadurch entstanden, dass Frau Dickel eines Tages bei uns angeklopft hat und fragte, ob sie am Institut unterkommen könnte für ihre Forschung im Südpazifik. Wir haben uns sehr gefreut und sie gerne aufgenommen - und schnell festgestellt, dass wir ein gemeinsames Forschungsinteresse haben.

Nun bin ich ja Naturwissenschaftler und sie ist in der Didaktik der Geografie beheimatet - wie kommt das zusammen? Es geht uns um die Wertegemeinschaft, wir haben ähnliche Vorstellungen davon, wie Forschung sein sollte, wie geforscht werden sollte. Dadurch hat sich der Kontakt erhalten und ein Gedankenaustausch aufgebaut, woraus das Buch „Die Verantwortung der Geografie“ entstanden ist. Mein Aufenthalt in Jena kam aus der Intention heraus, gemeinsam an diesem Buch zu arbeiten. Als wir damit loslegten, kam Corona, was im Südpazifik bedeutete, dass das Land Fidschi, wie die anderen Inselstaaten auch, sich sofort komplett abgeriegelt hat. Es war also seit März 2020 gar nicht mehr möglich, in das Land einzureisen, nur unter äußerst großen Schwierigkeiten. Ich musste ja nicht unbedingt zurück und habe dann in Jena erst einmal darum gebeten, mich längerfristig aufzunehmen. Und so habe ich die Corona-Krise für mich genutzt, hier von Mitteleuropa aus zu arbeiten, von Jena aus zu arbeiten, und das ist eigentlich nach wie vor so.

Sie haben den Bogen gespannt zum gemeinsamen Buch mit Frau Professor Dickel, das mittlerweile erschienen ist. Haben Sie nach Abschluss des Buches an neuen Themen und Projekten gearbeitet?

Ich habe natürlich laufende Projekte, Abschlussarbeiten, Doktorand/innen, die ich betreue. Das alles ist naturwissenschaftliche Forschung im Südpazifik. Dabei geht es um die Dynamik von Regenwäldern auf den pazifischen Inseln, mein großes Forschungsthema seit meiner Habilitation. Für die Arbeit an meiner Habilitationsschrift habe ich damals eine Einladung bekommen an die University of Hawai’i und bin mit einem DFG-Stipendium dorthin gegangen und habe dort den Schwerpunkt „Die Wälder des Pazifikraums im Klimawandel“ entwickelt. Das Thema habe ich später auch mitgenommen an meinen Lehrstuhl an die University of the South Pacific, den ich 2014 übernommen habe. Die Forschung lief natürlich immer weiter, auch in meiner physischen Abwesenheit, und das tut sie auch noch immer.

Sie haben gerade schon die laufenden Forschungsprojekte gemeinsam mit Studierenden angesprochen, die ja nicht alle in Jena sind. Inwiefern erschwert oder begünstigt denn die Pandemie Ihre Forschung hier in Europa?

Also der Witz ist, dass die aktuelle Lage meine Forschungsarbeit eigentlich sehr begünstigt hat. Es hat sich ergeben, dass alte Kontakte wieder aufgefrischt wurden, ich alten Kolleg/innen und Weggefährt/innen geschrieben habe. Die Kontakte, die aus der Entfernung von über 16.000 km nach Fidschi erschwert waren, haben sich wieder intensiviert. Ich arbeite ja in verschiedenen Projekten, auch außerhalb der Universität im angewandten Bereich, in der Landschaftsökologie, in der Landschaftsplanung in Bayern. Ich gutachte für die Europäische Kommission, mittlerweile bin ich intensiv in verschiedene Projekte und Initiativen eingebunden, das ist sehr schön, da schließen sich auch große Kreise.

Das klingt sehr spannend. Was erleichtert Ihnen denn gerade den Kontakt auch zu Ihrer Forschung in Ozeanien zu halten -das Kontaktepflegen - bekommen Sie Unterstützung?

Wir leben ja in virtuell geprägten Zeiten, man kann sich über das Internet sehr, sehr viel zurechtlegen. Mein spezieller Fall war ja, dass ich als Institutsdirektor sehr unmittelbar zuständig war nicht nur für 33 Mitarbeitende, sondern auch für bis zu 2500 Studierende. Deshalb war ich administrativ stark belastet. Die Forschung ist dann natürlich hinten runtergefallen. Das führte zu der Situation, dass ich es anfangs sehr genossen habe, als der Corona-Break kam, und ich sozusagen ein verlängertes Sabbatical bekam. Dass ich in Ruhe wo sein konnte, ich hatte Zeit für meine Familie und Zeit, mir Gedanken zu machen, was interessiert mich denn eigentlich? Man muss ja erst einmal wieder aufwachen. Es war, als hätte einer ein Licht in meinem Kopf angeknipst, der Fokus ging auf und plötzlich kamen alte Projektideen wieder hoch und auch die Lust, neue Initiativen zu starten, denn die verliert man schnell, wenn man immer gestresst ist. Insofern habe ich dann die Leichtigkeit aufgenommen und hatte viel mehr Zeit, mich um meine Master-Studierenden und Doktorand/innen zu kümmern, für alles war trotz 10 Stunden Zeitumstellung viel mehr Zeit; es war möglich, alles über virtuelle Kanäle zu regeln.

Es ist jetzt schon an einigen Stellen angeklungen, dass Sie alte Projekte wieder aufgegriffen haben. Sie haben zum Thema Hochgebirge promoviert, könnten Sie sich nach der Zeit hier in Mitteldeutschland auch wieder Forschung zum Thema Mitteleuropa, vielleicht sogar Gebirge, vorstellen oder zieht es Sie thematisch immer wieder nach Übersee zurück?

Ja, es gibt tatsächlich eine Idee, die Forschung aus meiner Doktorarbeit wieder aufzunehmen und fortzuführen. Der Hintergrund ist der, dass ich Mitte der 90er Jahre in den Hochalpen geforscht habe, zur Dynamik der Vegetation unter verschiedenen Einflüssen, die vor allen Dingen kältebedingt waren. Diese Kälte gibt es dort in dieser Form nicht mehr im Zuge des Klimawandels, und die Landschaftsdynamik hat sich sehr verändert, ich war inzwischen dort.

Herr Böhmer, ich habe auch ein wenig auf Ihrem Twitter Account gestöbert; sehen Sie den Account als rein berufliches Medium, als Vernetzungsinstrument? Wie ist Ihre Position zu diesem Instrument?

Also, es ist so, dass ich auf sozialen Netzwerken bisher sehr fokussiert auf meine Arbeit war. Ich wusste zwar, es gibt Twitter, habe es aber nicht aktiv betrieben, weil ich schlichtweg keine Kapazitäten dafür hatte. Ich habe diesen Twitter Account tatsächlich Anfang dieses Jahres (2021) anlässlich meiner Beteiligung an einer wichtigen wissenschaftlichen Publikation gestartet, vor allen Dingen aus der Erkenntnis heraus, dass aktuelle Forschung und Forschungsergebnisse heute sekundenschnell über Twitter kommuniziert und sichtbar gemacht werden. Als ich dann meinen Account hatte, habe ich das noch intensiver mitverfolgen können und war wirklich hingerissen von dieser Möglichkeit, aktuelle Forschungsergebnisse noch schneller recherchieren zu können. Man hat ja Mühe, in der Vielfalt der erscheinenden Zeitschriften all das Neue zeitnah zu erfassen. Ich habe die Corona-Zeit auch dazu genutzt, ein eigenes Sachbuch zu schreiben („Beim nächsten Wald wird alles anders“, erschienen am 25.11.21 bei Hirzel, Stuttgart), in dem ich zusammengefasst habe, was über die Waldsterben im Pazifikraum gearbeitet wurde, um auf Deutsch wieder etwas in die deutschsprachige Wald-Community hineinzugeben, so dass die Perspektive auf die mitteleuropäischen Wälder einfach globaler und langfristiger wird. Das war sozusagen der zweite Anlass, mich mit Twitter zu befassen. Ich habe viele aktuelle Paper, die ich so kaum mitbekommen hätte, über meinen Twitter Account geliefert bekommen. Ich habe bis zum Manuskriptabschluss alles Relevante an der Forschungsfront ohne Zeitverlust mitlesen können, das war einfach grandios.

Wenn Sie nach so langer Zeit in Übersee wieder viel Zeit in Deutschland verbringen, was fällt Ihnen immer noch im Alltag auf, wenn Sie hierher zurückkommen? Gibt es eine Sache, die Sie ganz typisch mit Deutschland, mit Jena verbinden?

Nicht speziell mit Jena, aber was mir als ganz typisch deutsch auffällt ist, worüber sich Leute so beschweren. Gerade wenn man im Entwicklungsländerkontext arbeitet, und das habe ich ja gemacht im Südpazifik. (...) Es ist zwar toll, dort zu sein, es gibt Sonne, Strand und Meer, aber die University of the South Pacific ist eine regionale Universität, die von 12 Inselstaaten getragen wird. Der größte ist Fidschi, der kleinste ist Nauru. Es gibt zwar tolle Touristenhotels und zum Teil eine moderne Infrastruktur, aber es sind trotzdem Entwicklungsländer. Und wenn Sie mitbekommen, wie die Weltsicht der Menschen dort ist und welche Probleme sie haben, kommt Ihnen so ein bisschen das Verständnis abhanden, wie in Deutschland mit bestimmten Problemen umgegangen wird oder worüber sich Menschen im Alltag so beschweren. Und meine Antwort ist eigentlich immer: In Deutschland haben wir 24h am Tag Strom und Wasser, das aus der Leitung kommt und das man sogar trinken kann. Wir haben eine umfassende ärztliche Versorgung von Ärzten, die sehr gut ausgebildet sind, und diese Versorgung ist jedem zugänglich. Wir haben eine Polizei, die nicht korrupt ist und die Ihnen hilft, wenn Sie einen Anlass dazu haben. Und wir haben eine Jurisdiktion, die nicht korrupt ist. Und diese fünf Dinge zusammen genommen sind wahrscheinlich für 90 Prozent der Menschen auf unserem Planeten derzeit unerreichbar.

Und eine andere Sache in Ergänzung dazu ist, dass ich manchmal den Eindruck habe, die Menschen in Deutschland haben nicht mitbekommen, wie sehr sich die Welt verändert hat. Hier liegt immer der Fokus darauf, dass alles so bleiben soll, wie es ist, was ja bei einigen Sachen auch gut ist, aber dennoch sperrt man sich gegen einige Möglichkeiten des Fortschritts, das ist auch ein wenig merkwürdig. Das kann natürlich jede*r so halten, wie er möchte, aber ich sag mal - wenn Sie aus Sydney zurück nach Deutschland kommen, mit diesen Eindrücken, dann haben Sie mittlerweile das Gefühl, es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit. Da haben wir schon Mühe, uns das vorzustellen, wie es längst funktionieren könnte im Jahr 2021.

Ich finde es spannend, dass Ihnen der Umgang mit dem Kontrast immer wieder gelingt. Ihre Familie lebt in Franken, eine sehr ländliche Region, und Sie forschen an Institutionen in Großstädten. Der Kontrast scheint Sie immer wieder zu inspirieren?

Das ist absolut richtig! Das ist ein großer Wert. Ich bin in Franken auf dem Land aufgewachsen, in einer kleinen Stadt, mit Zugang zum Wald, in einer Familie, die zum großen Teil aus der Landwirtschaft kam. Das heißt, ich bin sehr erdverbunden aufgewachsen hier in Franken und hatte eigentlich nie vor, so weit in die Welt hinaus katapultiert zu werden. Das hat sich einfach Schritt für Schritt so ergeben im Lauf dieser Karriere. Das war für mich auch nicht immer so einfach. Ich habe mich zwar gefreut über die globale Community von Forscher*innen, zu der man dann gehört. Das fand ich sehr inspirierend, mit ganz verschiedenen Menschen aus ganz verschiedenen Ländern und Kontexten zusammenzuarbeiten. Das ist für mich immer eine ganz große Motivation gewesen. Aber andererseits musste ich da auch erst hineinwachsen. Ich kam ja aus einer Kleinstadt in Franken und das Weltbürgertum ist einem ja nicht in die Wiege gelegt. Ich habe gelernt, dass man wirklich lange in einer anderen Wissenschaftskultur leben muss, um zu verstehen, wie diese Menschen ticken und warum sie das so machen, was sie machen. Und das gleiche gilt natürlich auch für die Gesellschaft, in der man lebt, das war schon sehr erhellend. Bei mir haben sich dann zwei Pole aufgetan - einmal dieser Heimatpol in Franken, ganz wichtig, um wieder zurückzukommen und sich zu erden und zu justieren, und eben andererseits diese unheimliche Dynamik, diese unglaubliche Vielfalt und Buntheit des Pazifikraumes. Es gibt natürlich auch andere Länder, in denen ich war, aber diese pazifischen Länder sind der stärkste Kontrast, den ich mir zum europäischen Festland vorstellen kann. Das betrifft schlichtweg alles, nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft, wie sie funktioniert, und ihre Werte.

Vielen Dank, dass Sie diesen persönlichen Eindruck geben. Was fehlt Ihnen denn hier in Jena am meisten im Vergleich zu Übersee? Ist es eher das Klima, das Essen oder fehlt Ihnen gar nichts?

Wenn mir etwas fehlt, dann sind es eigentlich nur Kleinigkeiten. Also natürlich ist es toll, wenn in der Südsee die Sonne scheint und es vermeintlich immer warm ist. Aber irgendwann beginnt auch in der Sonne der Alltag. Ich habe wirklich angefangen, die Jahreszeiten sehr zu vermissen. Ich erlebe diese jetzt viel intensiver, es ist einfach großartig, wenn es Herbst wird, Winter wird und wieder Frühling, das berührt einen auf eine sehr eigene Art und Weise.

Herr Böhmer ich habe noch zwei Fragen an Sie: was werden Sie denn am Winter hier in Jena genießen? Was macht Ihnen hier eine gute Zeit?

Die schöne Innenstadt, die kurzen Wege, die netten Kolleg*innen am Institut und meine netten Vermieter, das macht immer gute Laune. Die Landschaft um Jena kenne ich noch aus dem Studium ganz gut, aus Exkursionen Anfang der 90er Jahre, auch den Botanischen Garten. Jena hat für mich etwas unheimlich Leichtes, ich empfinde die Stadt als leicht, von der Stimmung her. Ich freue mich, dass die Stadt so übersichtlich ist, dass ich überhaupt kein Auto brauche, um mich zu bewegen, man kann alles ganz bequem abschreiten, da bleiben für mich eigentlich keine Wünsche offen.

Und welche Wanderroute würden Sie einer*m neu ankommenden Gastwisschaflter*in empfehlen, um Jena zu Fuß zu erkunden?

Einfach stadtnah die Hänge hoch und dort die Aussicht genießen. Die steppenartige Vegetation, die Kalkmagerrasen an den Hängen, das ist faszinierend, also botanisch faszinierend für mich als Botaniker. Und wer mit Pflanzen nix anfangen kann, der hat ja die fantastische Aussicht! Das würde ich als erstes machen, denn aus dieser Wanderung erklärt sich schlichtweg die Gesamtlandschaft um Jena herum, man kann gut verstehen, wie das alles entstanden ist. Damit würde ich anfangen, nicht in die Ferne schweifen, sondern erstmal den Hang hinauf, auch wenn es anstrengend ist.

Herr Böhmer, vielen Dank für Ihre spannenden Antworten!

Vielen Dank für Ihre Fragen, ich war erstaunt, wie viel ich rede! Ich möchte auch noch einmal sagen, dass Jena für mich eine rundum positive Erfahrung ist, und das wäre ohne Corona-Lockdowns viel intensiver gelaufen.