Argumentation zum "Fall Petersen" von Peter Fauser, Jürgen John und Rüdiger Stutz (30.11.2009)

Vorbemerkung

Dieser Text soll die weitere Diskussion um den Jenaer Reformpädagogen Peter Petersen (1884-1952) durch eine ausführliche Argumentation anregen, ohne der Entscheidung über den Namen "Petersen-Platz" vorgreifen zu wollen. Um die Argumentation überschaubar zu halten, kann sie nicht mit Details überfrachtet werden. Doch sind zahlreiche - oft vielschichtige - Sachverhalte zu berücksichtigen. Deshalb werden einige Anmerkungen und fünf Anlagen angefügt: ein Überblick über Petersens Wirken in der Weimarer Zeit (Anlage 1), eine Liste für oder gegen ihn sprechender Sachverhalte in der NS-Zeit (Anlage 2), ein Überblick über Petersens Wirken in der SBZ-Zeit (Anlage 3), Hinweise auf Petersen-Gedenken und Schulgründung 1990/91 (Anlage 4) und Empfehlungsvorschläge für den Ausschuss (Anlage 5).

Prof. Dr. Peter Fauser hat den Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne.
Prof. Dr. Jürgen John ist Professor im Ruhestand für moderne mitteldeutsche Regionalgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Dr. Rüdiger Stutz ist Stadthistoriker in Jena.

  • I. Diskussionsprozess

    Der von der Stadt mit zwei Podiumsdiskussionen öffentlich geführte Diskussionsprozess 1 sollte nun auf der Ebene des Kulturausschusses weitergeführt werden. In diesem Sinne haben sich ja auch die meisten Ausschussmitglieder am 17. November geäußert. Die Debatte selbst ist wichtig, nicht nur ihr Ergebnis. Sie erweitert den bisherigen Diskussions- und Kenntnishorizont und hilft allen Beteiligten, sofern sie sich wirklich auf sie einlassen. Den Anstoß zur derzeitigen Petersen-Debatte gab Benjamin Ortmeyer mit seinen Publikationen 2 und mit seiner medialen Präsenz. Das haben frühere Forschungen nicht geschafft. Dafür ist ihm zu danken - bei aller Problematik seiner Petersen-Sicht, seiner Positionen und methodischen Verfahrensweisen. Ohne ihn gäbe es diese Debatte nicht. Sie bietet die Chance, im besten Sinne des Wortes "Aufklärung" Tatsachen, Argumente und Sichtweisen zusammen zu führen und aus der "pathologischen Kommunikation" 3 polarisierter und polarisierender Petersen-Debatten 4 herauszukommen. Das ist vor allem in Jena - Symbolort für Petersen und Jenaplan - wichtig. Die hier geführte Debatte kann auch über Jena hinaus .5 stilbildend wirken. Dazu haben die beiden Podiumsdiskussionen beigetragen. Leider hat die Lokalpresse nicht oder verzerrend über ihre Inhalte und Teilnehmer informiert. Umso nötiger ist ihre öffentliche Dokumentation. Es ist ein großer Fortschritt gegenüber früheren Debatten 6, dass die Stadt, die 1990/91 den Namen "Petersen-Platz" vergab, diesmal selbst die Initiative ergriff. Sie sollte diesen Diskussionsprozess im Verbund mit Universität 7 und Jenaplan-Schule 8 auf hohem Niveau, nach klaren Kriterien und Maßstäben, transparent, sachlich-differenziert und umsichtig weiter führen. Experten können ihn wissenschaftlich begleiten und mit gestalten, nicht aber der Meinungsbildung vorgreifen. Bereits dezidiert geäußerte Stimmen sollten vom Kulturausschuss berücksichtigt werden, können aber die eigene Diskussion nicht ersetzen. Sie lässt sich nicht an andere Instanzen delegieren, obwohl es sicher ratsam wäre, vor einer Entscheidung die Meinung und den Rat weiterer Fachleute und Institutionen 9 zu hören. Der Diskussionsprozess wird erfolgreich sein, wenn er zu einer "nach innen" (gegenüber den Bürgern) wie "nach außen" überzeugend vertretbaren Entscheidung über den Namen "Petersen-Platz" führt. Es ist zu hoffen, dass er auch medial in diesem Sinne begleitet wird.

  • 1. Der "Fall Petersen"

    Der "Fall Petersen" ergibt sich aus dem "Problem Petersen" und dem "Nimbus Petersen". Als Repräsentant und Symbolfigur reformpädagogischer "Neuer Erziehung" gehört Petersen zu den Großen der Erziehungswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Er hat zudem ein international ausstrahlendes innovatives Schulmodell integrativer Pädagogik geschaffen. Umso verstörender wirken sein Verhalten und seine Schriften in der NS-Zeit. Ginge es nur um einen "üblen Gesellen" 10 und nicht um einen renommierten Pädagogen, so wäre die Debatte unnötig. Es gäbe keinen "Petersen-Platz" und kein Namensproblem. Der Rückblick auf das Petersen-Gedenken 1990/91 (Anlage 4Externer Link) unterstreicht das. Für dieses Gedenken gab es verständliche Motive und gute Gründe. Man wollte "an Petersen als einen Großen der Geschichte der Alma Mater Jenensis mit der gehörigen Ehrfurcht erinnern, die genialer Leistung zukommt" 11 und zugleich einen Mann rehabilitieren, dessen Universitätsschule 1950 als ein "reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik" 12 geschlossen worden war und der dann aus dem erinnerungskulturellen Kanon und dem öffentlichen Gedächtnis der DDR gestrichen wurde. Die aus der Bürgerrechtsbewegung 1989/90 hervorgehende basisdemokratische Initiative für eine reformpädagogische Jenaer Schule und das Petersen-Gedenken an der Universität 1990 waren Akte der Abgrenzung von der DDR, ihrer Schule und Erziehungswissenschaft. Gleichzeitig strebte die diskreditierte Sektion Erziehungswissenschaft die Wiedergründung der Universitätsschule an, um so der drohenden Abwicklung zu entgehen. Bei diesem scheiternden Versuch wie bei dem Festakt an der Universität spielte die NS-Zeit Petersens eine untergeordnete bzw. gar keine Rolle. Auch bei der städtischen Namensvergabe 1990/91 wurde nicht nach ihr gefragt. Nur die Schulgründer grenzten sich von ihr ab und wählten deshalb 1991 den Namen "Jenaplanschule".

  • 2. Erinnern und Gedenken

    Das Spannungsverhältnis von Erinnern und Gedenken 13 wurde in der Umbruchsituation 1990/91 nur partiell beachtet. Umso mehr ist es nun bei der Frage zu bedenken, ob der Name abgelegt oder beibehalten werden solle. Allerdings stellt sich das Problem der Gedenkwürdigkeit vor einer Namensvergabe erheblich anders dar als danach. Benennen und Belassen ist nicht dasselbe. 14 Die Frage, ob man einen bereits vergebenen Namen bei veränderter Sachlage wieder ablegen solle, schließt nun weitere Fragen ein: Sind die Gründe, die zur Namensvergabe führten, gegenstandslos geworden? Wie soll das nötige Erinnern nach einer Namensablegung aussehen? Wie kann man die betreffende Person und ihren Fall weiter im öffentlichen Bewusstsein halten, ohne der Gefahr des Beschweigens und einer Schlussstrich-Mentalität zu erliegen? Damit stellt sich auch die Frage nach den geschichts- und kommunalpolitischen Signalen, die von einer Ablegung oder Beibehaltung des Namens ausgehen und nach den möglichen Fehldeutungen, die sich daran knüpfen können. Auf den "Fall Petersen" bezogen, lässt sich das Entscheidungsproblem in den Fragen zusammenfassen bzw. zuspitzen, was seiner Person und seinem Wirken angemessen ist bzw. was größeren Schaden anrichte: den Namen eines Mannes im öffentlichen Raum beizubehalten, der NS-nahe Schriften antisemitischen und rassistischen Inhalts veröffentlicht hat oder den Namen eines der bedeutendsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts und des Begründers der Jenaplan-Pädagogik abzulegen. Und es sind die Konsequenzen für ähnlich gelagerte Fälle zu bedenken, damit man nicht Gefahr läuft, mit zweierlei Maß zu messen. Auch die in der Kulturausschuss-Sitzung vom 17. November 2009 aufgeworfene Frage, ob ein kritischer Kommentar zum möglicherweise beibehaltenen Namen nicht in Widerspruch zum Gedenken durch einen Platznamen stehe, verlangt eine angemessene Antwort. Die Frage ist völlig berechtigt, scheint aber auch von der Vorstellung geprägt, man könne nur makelloser Vorbilder gedenken. Die sind eher selten. In den meisten Fällen liegen die Dinge viel komplizierter, wie die in der Diskussion schon mehrfach erwähnten - ebenfalls eng mit der Jenaer Erinnerungskultur verbundenen - Beispiele Luther, Wagner, Haeckel und Eucken oder - bezugs- und zeitnaher zu Petersens Jenaer universitärem Wirken - Max Wien, Bruno Bauch, Abraham Esau, Erich Preiser, Richard Lange, Hugo Schrade und Hans Knöll zeigen.

  • 3. Die Kernfrage

    Um sich in einer solch schwierigen Entscheidungssituation richtig zu verhalten und zu einer gut begründeten Entscheidung zu gelangen, die auf kritischer Würdigung wie sorgfältiger Abwägung aller relevanten Aspekte beruht, ist es notwendig, Klarheit über Persönlichkeit, Werk, Denken und Verhalten Petersens insgesamt zu gewinnen - "Aufklärung" also. Das schließt - das ist schon ein moralisches Gebot - die klare Distanzierung von Petersens Rolle in der NS-Zeit und von seinen Schriften mit rassistischem und antisemitischem Inhalt ein. Es verlangt zugleich, sich ein Gesamtbild von "Petersen" zu machen, das nicht auf die NS-Zeit beschränkt ist. Die Kernfrage lautet: Wofür steht Petersens Name in der Wissenschafts- und Pädagogikgeschichte, im "kollektiven Gedächtnis" 15 und im Funktions- und Diskussionszusammenhang "Schule heute"? Dabei geht es um historische und aktuelle Dimensionen einer angemessen kritischen Würdigung Petersens und entsprechender erinnerungskultureller Selbstverpflichtung von Stadt, Universität und Schule.

  • 4. Historische Dimension - Weimar- und NS-Bezüge

    In historischer Perspektive lassen sie sich in den Formeln Weimar-Bezug und NS-Bezug zusammenfassen, deren Details aus den Anlagen 1Externer Link und 2Externer Link ersichtlich sind.

    a) der Weimar-Bezug: Petersens Leistung als Begründer der Jenaplan-Pädagogik im gesellschaftlich-wissenschaftlichen Aufbruch der Weimarer Republik, mit der Jena zu einem national wie international ausstrahlenden Zentrum der Reformpädagogik wurde; seine Berufung 1923 im Kontext sozialdemokratischer Reformpolitik der Ära Greil; sein an der Jenaer Universitätsschule entwickeltes Schulmodell, das seit Locarno 1927 als Jenaplan international bekannt wurde; die danach in Preußen unter dem sozialdemokratischen Kultusminister Grimme gegründeten Jenaplan-Schulen - und die mit all dem verbundenen demokratischen Gründungs- und Schultraditionen der Jenaplan-Pädagogik 16.

    b) der NS-Bezug: Petersens NS-nahe Schriften 17 wie seine gesamte Rolle, sein Denken und Handeln in der NS-Zeit; der Bruch mit den eigenen Denk- und Schultraditionen, der sich ideell und biographisch bereits vor 1933 - insbesondere seit 1930 - andeutete 18; die Versuche Petersens, sein Schulmodell im NS-System zu etablieren; die politischen Bündnisse, die er in der NS-Zeit zu schließen versuchte; das Personal, mit dem er sich an seiner Erziehungswissenschaftlichen Anstalt umgab, während die Universitätsschule selber davon offenbar wenig oder weniger berührt wurde.
    Beide Dimensionen - die Weimar- wie die NS-Bezüge - müssen in eine vernünftige Relation gebracht werden, ohne das eine in simpler Weise gegen das andere aufzurechnen oder b) durch a) relativieren zu wollen. Man begibt sich aber auch auf einen Irrweg, wenn man nur den NS-Bezug thematisiert, den Weimar-Bezug weglässt oder zu einem geistigen Vorspiel der NS-Zeit umdeutet. Das geschieht vor allem dann, wenn die in den Reformbewegungen der Weimarer Zeit - auch bei Petersen - oft stark ausgeprägten Begriffsbezüge zu Volk, Volksschule, Volkshochschule, Volkskirche oder Volksgemeinschaft - zentrale, deutungsoffene Kommunikationsformeln, die damals in allen gesellschaftlichen Gruppen, geistigen Bewegungen und politischen Lagern von links bis rechts verwendet wurden 19 - als völkische Vorläufer späteren NS-Denkens fehlgedeutet werden. Solch völkisches Denken 20 gab es in der Weimarer Republik zwar reichlich, aber nicht bei Petersens Jenaplan-Pädagogik nach den Grundsätzen Neuer Erziehung mit dem seit 1923/24 gestalteten, seit 1927 als Jenaplan einer freien allgemeinen Volksschule berühmt gewordenen Schulmodell als Kern. Petersens Jenaplanschule war ein prominentes Beispiel der Reform- und Lebengemeinschaftsschulen, die im Sinne der Weimarer Verfassung und ihrer Schulartikel chancengleiche Frei- und Gestaltungsräume schufen. 21 Sie verkörperten gleichsam das demokratische Gegenprogramm gegen sozialrassistisch-eugenisch argumentierende Bildungskonzepte, die Begabung an sozialen Status banden und "Naturgrenzen geistiger Bildung" behaupteten .22 Petersens im Reformaufschwung der 1920er Jahre entwickelte Schule - nicht seine Erziehungs- und didaktische Führungslehren - machen das eigentliche Werk und die reformpädagogische Relevanz Petersens aus. Die Jenaplan-Schulpraxis war kein Ausfluss bloßer Schulideologie. Sie erwies sich als wirkungsvolles - im wahrsten Sinne des Wortes - Werkzeug moderner demokratischer Schulentwicklung in der Weimarer Republik und in späteren vergleichbaren Situationen. Nicht zufällig standen die Werk (Jenaplan)- und Weimar-Bezüge im Mittelpunkt versuchter bildungs- und schulpolitischer Neuordnung nach 1945 (Anlage 3Externer Link), der bundesdeutschen Schulreformbewegung und der reformpädagogischen Neuansätze nach dem Ende der DDR (Anlage 4Externer Link).
    Nur die vernünftige Relation der Weimar- und NS-Bezüge in Petersens Wirken führt zu Klarheit, Aufklärung, kritischer Würdigung und einer sachlich begründeten Entscheidung jenseits von Petersen-Apologie und distanzloser Verehrung einerseits wie pauschaler Verdammung und Streichung Petersens aus dem öffentlichen Gedächtnis andererseits. Das bedeutet freilich, sich gegen beide Tendenzen zu wenden: gegen die Verdränger der NS-Zeit Petersens, die sie in apologetischer Absicht ausblenden, beschönigen oder umdeuten wie gegen die Diffamierer der Reform- und Jenaplan-Pädagogik als völkisch und faschistisch, die Petersen eine entsprechende Grundausrichtung von Anfang an unterstellen und seine NS-Nähe zu diesem Zwecke instrumentalisieren. Diese Tendenz hat eine ebenso lange Tradition wie die Versuche, den Weimar-Bezug der Jenaplan-Pädagogik und die Schließung der Universitätsschule 1950 für die Petersen-Apologie zu instrumentalisieren oder - wie 1990 -, um sich Petersens als "Rettungsanker" zu bedienen. All diese Tendenzen wirken bis in die Gegenwart und bis in die derzeitige Petersen-Debatte - die diffamierende Tendenz ebenso wie die verdrängende und beschönigende 23. Von letzterer war auch eine Jenaer Konferenz "80 Jahre Jenaplan" (2007) 24 geprägt, deren Veranstalter sich wohl deshalb nicht an der derzeitigen Petersen-Debatte beteiligen - im Unterschied zu den ehemaligen Schülern und Schülerinnen der Universitätsschule, die zwar aus nachvollziehbaren Gründen mit ihren erfahrungsgestützten Argumenten bemüht sind, Petersens Namen möglichst "rein zu halten", die aber durchaus bereit sind, sich auf die kritische Debatte einzulassen. 25

  • 5. Aktuelle Dimension - Jenaplan heute

    Zwischen den skizzierten Extremen kann nur der Weg sachlich begründeter Aufklärung zu einem vertretbaren Ergebnis führen. Nur auf diesem Wege lässt sich die Frage nach Petersens heutiger Relevanz beantworten. Denn es geht ja in seinem Falle nicht nur um die Geschichte und den historischen Jenaplan. Es geht auch um die von dem Bildungsforscher Wolfgang Edelstein stark betonte Relevanz Petersens für den Funktionszusammenhang "gute Schule heute" 26 und für aktuelle Debatten um Schule, Schulkultur und Bildungszukunft. Die heutige Jenaplanpädagogik lebt nicht durch orthodoxe Lehrgebäude oder schulferne Gesellschaften, Werkstätten und Konferenzen, sondern durch kreative, mit ihrer Schulpraxis konzeptionsbildende Schulen mit erheblicher allgemeiner Wirkung für Bildungsreformen, Schulpolitik und Schulentwicklung. In diese übergreifende Perspektive gehört das Verhältnis von historischem und neuem Jenaplan, also das, was die heutige Jenaplanpädagogik mit Petersens Ideenwelt und seinem Schulkonzept verbindet und was sie davon trennt .27

  • 6. Elitenverhalten in der Weimarer Demokratie und in der NS-Diktatur

    Nicht zuletzt geht es im "Fall Petersen" wie in ähnlichen Fällen widersprüchlicher Persönlichkeiten von Rang um Grundfragen des Verhaltens wissenschaftlicher Eliten in der Weimarer Demokratie und im NS-System .28 Im Grundbefund eines überwiegend distanziert bis ablehnenden Verhaltens zur Weimarer Demokratie lag Petersen eher gegen den Trend. Er gehörte in den 1920er Jahren zweifellos zur "vernunftrepublikanischen" Minderheit 29 und bewegte sich anfangs zudem in den Milieus linksrepublikanischer und sozialdemokratischer Reformpolitik. Gegen den Mehrheitstrend eines auf geistige Autarkie gerichteten nationalen Wissenschaftsdiskurses der Weimarer Zeit lag Petersen auch mit seinen internationalen Wissenschaftskontakten und seinem Anteil am transnationalen reformpädagogischen Kommunikationsnetzwerk. Im Grundbefund überwiegend zustimmenden Verhaltens der - wie Petersen - 1933 nicht von den Hochschulen vertriebenen Professorenschaft zum neuen "nationalen Staat", zum Krieg zur "Neuordnung Europas" und zum entsprechenden Wissenschaftseinsatz lag Petersen durchaus im Trend. Wie viele seiner Kollegen steht er für den "nationalen Konsens" traditioneller gesellschaftlicher Eliten mit dem NS-Regime, was bei seiner internationalen Reputation besonders schwer wiegt. Wie die meisten Wissenschaftler und Hochschullehrer suchte er die Kooperation mit politischen Bürokratien des "Dritten Reiches" für den Wissenschaftseinsatz, obwohl er den genuin nationalsozialistischen Pädagogen à la Krieck und Bäumler eher fernstand und - wie die Erziehungswissenschaften insgesamt - letztlich nicht zu den Gewinner-, sondern zu den Verlierergruppen des Wissenschaftseinsatzes der NS-Zeit gehörte. Petersens Denken und Verhalten nach 1933 lassen sich mit "Anpassung" und "Opportunismus" kaum zutreffend beschreiben. Der Begriff "aktive Selbstmobilisierung" trifft da schon eher zu. Das alles ist kein Alleinstellungsmerkmal für Petersen, sondern - leider - charakteristisch für die Mehrheit der Wissenschaftseliten, die den Status von Funktions- und Weltanschauungseliten anstrebten und unter denen sich zunehmend - wie auch bei Petersen - kultur- und sozialrassistische Denk- und Argumentationsweisen ausbreiteten.

  • 7. Alternativen einer gut begründeten Entscheidung über den "Petersen-Platz"

    Die Frage, ob man den Namen "Petersen-Platz" ablegen oder beibehalten solle, lässt sich nicht apodiktisch nach dem Motto "Der Name muss weg" oder "Der Name muss bleiben" beantworten. Es ist eine moralische Frage klarer Distanzierung von verwerflichen Positionen, Denk- und Verhaltensweisen, eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber Persönlichkeit, Leistung und Werk Petersens und eine Frage öffentlich vermittel- und nachvollziehbarer Gründe. Es gibt zwei mögliche Antworten: a) Gleichgültig, was Petersen als bedeutender Reformpädagoge des 20. Jahrhunderts geleistet hat; sein Verhalten in der NS-Zeit diskreditiert ihn so, dass ein Name "Petersen-Platz" nicht gerechtfertigt ist; b) Petersens Leistung, Werk und Relevanz rechtfertigen es trotz seines entschieden zu verurteilenden Denkens und Verhalten in der NS-Zeit, den Namen "Petersen-Platz" - kritisch kommentiert - beizubehalten.
    Beide Antworten und Entscheidungen verlangen, Petersens Leistung, Werk und Relevanz - den Weimar-Bezug also - im Kontext kritischer Analyse und der angedeuteten Kriterien und Maßstäbe deutlich herauszustellen. Nur dann sind sie - so oder so - souverän, gut begründet und überzeugend vertret- und kommunizierbar. Auf der Basis unkritischer Petersen-Apologie und der Ausblendung des NS-Bezuges kann das ebenso wenig geschehen wie auf der Grundlage bloßer Zerrbilder Petersens, die den Weimar-Bezug ignorieren oder umdeuten: etwa mit dem Zerrbild eines NS-Propagandisten ohne eigene wissenschaftlich-reformpädagogische Leistung bzw. von antidemokratisch-völkischer Grundausrichtung schon in den 1920er Jahren 30 oder mit dem geschichtsklitternden Bild eines "Volkserziehers" in zwei Regimen - dem NS- und dem SED-Regime .31 Entsprechende Argumentationen und Entscheidungen können nicht überzeugen und werden keinen Bestand haben. Eine begründete Entscheidung kann es sich nicht auf solche Weise "leicht machen", indem sie sich einen Popanz Petersen zimmert. Sie wird sich - ob sie nun den Namen "Petersen-Platz" ablegen oder ihn - kritisch kommentiert und kontextualisiert - beibehalten will - der Leistung, Bedeutung, Relevanz und Problematik dieses Pädagogen von Rang stellen müssen, um wirklich überzeugen zu können - gerade in Jena als Wirkungs- und Symbolort Petersens und der Jenaplanpädagogik. Zerrbilder eines "Nazis und völkischen Pädagogen" taugen da nichts.

  • 8. Versuch, verstörendes Erinnern und anerkennendes Gedenken zusammen zu denken

    Fassen wir diese Überlegungen zusammen, dann wird deutlich, dass sich im Falle Petersens ehrendes Gedenken und notwendiges Erinnern nicht wirklich trennen lassen. Unabhängig davon, wie die Stadt über den Namen "Petersen-Platz" entscheidet, sie muss sich zu beiden Seiten von Petersens Wirken - den Weimar- wie den NS-Bezügen - gut begründet verhalten: zu seiner Bedeutung als Schöpfer des Jenaplanes und seiner daraus resultierenden schul- und bildungspolitischen Relevanz wie zu seiner Rolle in der NS-Zeit. Das ist umso wichtiger angesichts der Geschichte der Petersen-Rezeption und der damit verbundenen Erinnerungs- und Gedenkpolitik. Das darf bei der Entscheidung über den Namen "Petersen-Platz" nicht ausgeblendet werden.
    Diese Geschichte erweist sich bis in gegenwärtig polarisierte Debatten hinein als eine Folge von Versuchen, Petersens Person und Werk - auch um den Preis der Verkürzung und Verfälschung der Tatsachen - für bestimmte Zwecke zu instrumentalisieren: Zunächst verfälscht Petersen selbst bei dem Versuch, sein Schulkonzept als nationalsozialistisch brauchbar darzustellen, dessen eigentlichen Sinn und Ursprung. Nach der NS-Zeit und dem kurzen Zwischenspiel der ersten Nachkriegsjahre verwirft der SED-Staat dieses Schulkonzept gerade wegen seines Weimarer Ursprungs. Mit dem Werk wird in der Folgezeit auch die Person weithin beschwiegen. Petersens Verhalten in der NS-Zeit ist kein Thema in der DDR. In der Bundesrepublik wird es gegen anhaltende Widerstände erst relativ spät diskutiert. Im rehabilitierenden und sich vom Schulsystem der DDR abgrenzenden Petersen-Gedenken 1990/91 werden das Werk des Reformpädagogen und Schulgründers gewürdigt, seine NS-Zeit - von der Schulgründung abgesehen - kaum thematisiert und die Weimar-Bezüge von einigen Gruppen "wendepolitisch" instrumentalisiert.

    Was ist angesichts dieser Vorgeschichte richtig? Falsch wäre es, die Reihe einseitiger Partei- und Einvernahmen fortzusetzen. Im Falle Petersens lassen sich - wie in vielen ähnlich gelagerten Fällen widersprüchlicher Persönlichkeiten von Rang - verstörendes Erinnern und anerkennendes Gedenken nicht voneinander trennen. Dabei geht es auch um die Frage, welchen erinnerungs- und gedenkpolitischen Maßstäben und Zielen sich Stadt, Universität und Schule durch ihr Verhalten verpflichten. Im vergleichbaren Fall des Historikers und Antisemiten Heinrich v. Treitschke argumentierte der Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung Martin Sabrow: "Die Steglitzer Treitschkestraße stellt nicht so sehr den öffentlichen Grundkonsens gegenüber der deutschen Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts in Frage als vielmehr unsere Bereitschaft, der Vielschichtigkeit und Verschlungenheit dieser Geschichte öffentlichen Raum zu geben." 32 Im übertragenen Sinne gilt das sicher auch für den "Fall Petersen".